I. Belarus – Ein historischer Rückblick

Die Herkunft des Namens Belarus (Weißrussland) ist umstritten. Wahrscheinlich geht er auf die alte Farbensymbolik zurück, nach der "weiß" häufig mit "westlich" gleichgesetzt wurde. Der westliche Teil der einstigen Kiewer Rus (Fürstentümer Polozk, Turow, Minsk, Witebsk, Smolensk), der im 13. Jahrhundert nicht unter mongolisch-tatarischer Herrschaft geriet, wurde wohl als "Weiße Rus" bezeichnet.

Archäologische Funde belegen, dass das heutige belarussische Gebiet bereits seit 8000-10000 Jahren besiedelt wird. Hier bildeten sich in der 2. Hälfte des 1. Jahrtausends n. Chr. drei ostslawische Stämme heraus: die Dregowitschen, die Radimitschen und die Kriwitschen; außerdem lebte auch der nördliche Zweig der Drewljanen in diesem Gebiet. Im 9./10. Jahrhundert wurde das belarussische Territorium Bestandteil des Kiewer Reiches, dessen Großfürsten das Christentum einführten. Im 11. Jahrhundert entstanden unter anderem die Städte Brest, Minsk (erstmals 1067 erwähnt), Pinsk, Witebsk.

Nachdem die Kiewer Rus in zahlreiche Kleinfürstentümer zerfallen war, wurde sie in der Mitte des 13. Jh. endgültig durch die mongolische Invasion der so genannten Goldenen Horde zerstört. In dieser Zeit begann sich das Großfürstentum Litauen auszudehnen, das schließlich auch über Belarus herrschte. Enge Handelsbeziehungen mit deutschen Hansestädten, Skandinavien, mit östlichen und südlichen Nachbarfürstentümern wurden geknüpft. In diesem "Goldenen Zeitalter" entwickelten sich zahlreiche belarussische Städte zu Handels- und Handwerkszentren. In mehreren belarussischen Städten wurde ein System der Selbstverwaltung und Gerichtsbarkeit nach dem Magdeburger Recht eingeführt. Eine solche Stadtverwaltung erhielten Brest (1390), Grodno (1391), Sluzk (1441), Polozk (1498) und Minsk (1499).

Von weiterer besonderer Bedeutung für die belarussische Kulturgeschichte ist die in den Jahren 1517–19 erfolgte Bibelübersetzung durch Franzisk Skorina, die den Grundstein für die belarussische Schriftsprache legen sollte. Damit erhielten die Belarussen als dritte Nation in Europa nach Deutschen und Tschechen die Bibel in ihrer Muttersprache. Obwohl die Eliten des Großfürstentums eher polnisch, litauisch bzw. katholisch und zu Beginn des 16. Jh. in großer Zahl protestantisch (calvinistisch) waren, bildete die belarussischsprachige, orthodoxe und überwiegend bäuerliche Schicht die Bevölkerungsmehrheit. Das Belarussische diente bis 1697 als Kanzleisprache des Großfürstentums. Auch dessen Gesetzestexte, die "Litauischen Statuten" (1529, 1566, 1588) wurden in der von Skorina kanonisierten, als "Altbelarussisch" bezeichneten Sprache verfasst.

1569 wurde in Lublin die Union zwischen Polen und Litauen beschlossen. Es kam zur Vereinigung von Polen und Litauen zu einem einheitlichen Staat, der Rzeczpospolita. Im 16. und 17. Jh. übte Polen einen starken kulturellen Einfluss in Belarus aus, insbesondere auf den belarussischen Adel, der weitgehend polonisiert wurde und zum Katholizismus übertrat.

Ende des 18. Jh. begannen die so genannten Teilungen Polens, die dazu führten, dass das heutige belarussische Gebiet nach und nach unter russische Herrschaft geriet. Im 19. Jahrhundert betrieb die zaristische Regierung eine Russifizierung. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten sich erste Ansätze einer belarussischen Nationalbewegung heraus, die allerdings relativ wenig Einfluss gewann. Ein 1863 von Kastus Kalinowski geführter Aufstand gegen die Zarenherrschaft scheiterte. Sicher sind agrarische Rückständigkeit (die Leibeigenschaft wurde erst 1861 aufgehoben), Analphabetismus und Mangel an Bildung, der geringe Anteil an Stadtbevölkerung, Mittelklasse und freien Berufen mitverantwortlich dafür, dass keine breite belarussische Nationalbewegung entstand. Die bäuerliche Landbevölkerung, zu welcher 97% der Belarussen gehörte, bezeichnete sich noch im 20. Jh. als "Hiesige", d. h. als Bewohner ihres Ortes und ihrer Region, statt als "Belarussen", "Russen" oder "Polen". Die Elite des Landes bestand fast ausschließlich aus Polen, Russen und Juden. Die zaristische Regierung in Moskau verbot auch bis 1905 die belarussische Sprache.

1906 wurde in Wilna die Zeitung "Nascha niwa" gegründet, die bis 1915 herauskam und der entscheidende Faktor für die weitere Entfaltung der belarussischen Literatur war, was sich vor allem in der Entdeckung und Förderung zahlreicher Talente aus dem Volk zeigte. In ihr publizierten unter anderem regelmäßig die Schriftsteller Janka Kupala und Jakub Kolas.

Im Ersten Weltkrieg besetzten deutsche Truppen 1915 zunächst westliche Teile, im Februar 1918 weitere Gebiete von Belarus. Nachdem deutsche Truppen Anfang des Jahres 1918 in Minsk einmarschierten, erfolgte am 25.3.1918 die Gründung der "Belarussischen Volksrepublik“, die weder vom Deutschen Reich noch von den Westmächten anerkannt war. Nach dem Abzug der deutschen Truppen (November 1918) setzten sich die Bolschewiki endgültig durch und riefen am  1. 1. 1919 die "Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik" (BSSR) aus. Im polnisch-sowjetischen Krieg von 1920/21 besetzten polnische Truppen das Land. Aus dem Teil, den die Rote Armee wieder zurückerobern konnte, wurde die "Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik"  gebildet.

Das westliche Drittel von Belarus gehörte bis zum Zweiten Weltkrieg zu Polen. Nachdem im geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes ganz Belarus der Sowjetunion zugeschrieben wurde, besetzte die Rote Armee im September 1939 Ostpolen, das kurz darauf der BSSR angegliedert wurde. In diesem Gebiet sind unter Stalin vermutlich bis zu 500.000 Menschen (vor allem Kommunisten, Geistliche, Juden sowie polnische Adelige und Unternehmer) nach Sibirien und in die mittelasiatischen Sowjetrepubliken deportiert worden. Zwischen 1937 und 1941 ließ Stalin durch das NKWD viele Belarussen erschießen (nach jüngsten Schätzungen allein etwa 250 000 in den Wäldern von Kuropaty bei Minsk).

Am 22. Juni 1941 überfielen die Truppen Hitlerdeutschlands die Sowjetunion. Im Zweiten Weltkrieg war Belarus die Sowjetrepublik, die unter der deutschen Besatzung am meisten zu leiden hatte.

In den Nachkriegsjahrzehnten durchlief Belarus eine Industrialisierungsphase und verlor seinen agrarischen Charakter (Höhepunkt der wirtschaftlichen Modernisierung unter dem belarussischen Parteichef Pjotr Mascherow 1965-80). Der Anteil der Stadtbewohner wuchs von 30,5 % auf 69,3 %. In Minsk vergrößerte sich die Einwohnerzahl um mehr als das Dreifache. 1970-84 wies Belarus sogar das größte Wirtschaftswachstum aller Unionsrepubliken auf.

Am. 26. 4. 1986 ereignete sich in der benachbarten Ukraine die Katastrophe von Tschernobyl, durch die weite Teile vor allem im Süden und Osten des Landes verstrahlt wurden (hier gingen etwa 70% des radioaktiven Fallouts nieder). Der angerichtete ökologische, gesundheitliche und sozioökonomische Schaden war enorm.

Am 27. Juli 1990 erklärte der Oberste Sowjet der Belarussischen SSR diese zu einem souveränen Staat. Am 25. August 1991 erklärte das Land seine Unabhängigkeit, indem der Souveränitätserklärung der Status eines Verfassungsdokuments verliehen wurde. Auf Druck der demokratischen Opposition benannte der Oberste Sowjet die BSSR am 19. September 1991 in Republik Belarus um.

Am 8. Dezember 1991 bildete Belarus gemeinsam mit Russland und der Ukraine die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS).

Die ersten Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 gewann Alexander Lukaschenko.